Nicht alle empfinden das Gleiche über Sex

Tim Stüttgen. 2008. »Nicht alle empfinden das Gleiche über Sex.« Im Gespräch mit Laura Maria Agustin über MigrantInnen, die Sex verkaufen und diejenigen, die ihnen angeblich helfen wollen. testcard #17: Sex Beiträge zur Popgeschichte.

Politische Philosophen wie Deleuze, Foucault und Guattari haben seit den Siebziger Jahren begonnen zu fordern, mikropolitisch zu denken: Anstatt aus einem bürgerlichen Vernunftaffekt für abseitige Lebensformen wie Gefangene, Verrückte, SexarbeiterInnen oder Homosexuelle eine normalisierende und von Machtpraktiken geleitete Integration zu fordern, sollten sie selber nach ihren Wünschen und Begehren gefragt werden. Wer hätte würde es denn sonst auch wissen? Die Soziologin Laura Maria Agustin hat nicht nur jahrelang mit politischen Organisationen zum Verhältnis von Sexarbeit und Migration gearbeitet, sondern gerade ein verblüffendes und wichtiges Buch veröffentlicht, dass den Standpunkt der Personen selbst mitdenkt – und vor sensationalistischen Klischees warnt. Sex At the Margins (Zed Books) ist gerade auf englisch erschienen und nimmt nicht nur die Artikulationen von Sexarbeiterinnen auf, sondern hinterfragt auch die Klischees pädagogischer Opferdiskurse und konservativer Feminismen. Dabei entsteht ein seltener Umriss für eine Chance von einer Politik des Dialogs, der die Empfindungen der Subjekte und nicht eine totalisierende Vernunft oder universalistische Wahrheit in den Mittelpunkt stellt.

Liebe Laura Maria Agustin, Sie haben gerade Sex At The Margins, eine Studie zum Verhältnis von Sexarbeit und Migration veröffentlicht. Wie sind Sie zu Ihrem Thema gekommen?

Ich habe lange in NGO-Projekten in Mittelamerika, Südamerika und der US-Mexikanischen Grenze gearbeitet – und war hochgradig unzufrieden. Die Finanzierung kam von Geldgebern aus Übersee. Sie legten fest, welche Art von Projekten umgesetzt werden konnten. Mitarbeiter aus lokalen Kontexten hätten die gleiche Art von Projekten nicht vorgeschlagen. Aber sie haben nicht die Macht, sie abzulehnen, weil NGOs nur durch eine Finanzierung von außen überleben können. In meinem Buch gibt es ein Beispiel von einer spannenden Projektidee mit MigrantInnen, wo es darum geht, ihnen mehr Verantwortung und Wissen über geographische Ziele und die Vorbereitung für Reise- und Arbeitssituationen zu vermitteln. Doch die europäische Regierung, der wir das Projekt vorgeschlagen haben, wollte eigentlich nur von Migration abschrecken. Sie hat eine Veränderung der Lage, abseits von psychischer Betreuung von MigrantInnen nicht interessiert.

Abschreckung ist eine verbreitete Rhetorik, wenn Lebenszusammenhänge von Sex-ArbeiterInnen und MigrantInnen portraitiert werden. Auch in den Mainstream-Medien ist es so.

Die Mainstream-Medium tun, was sie immer getan haben: Sie konzentrieren sich auf das Sensationalistische, das Gewalttätige, das Erregende und das Tragische. Reporter und Redakteure auf der ganzen Welt bestätigen, dass es das ist, was sich verkauft. Bei MigrantInnen heißt das: Sex, Drogen und kriminelle Gangs.

Es gab diesen Dokumentarfilm, der Amsterdam als einen alptraumhaften Ort für MigrantInnen, die Sex verkaufen, darstellte, voller gewalttätiger Polizisten, Freier und Zuhälter. Dieser Film wurde hunderten notdürftiger Frauen gezeigt, die als potenzielle Migrantinnen eingeschätzt wurden – und von ihnen in den Diskussionen danach zumeist als deutlich übertrieben eingeschätzt. Sie alle wussten, dass dieses Bild von Amsterdam nicht stimmte, weil sie dort Freunde und Verwandte haben, die ihnen viel realistischere Einschätzungen vermittelt hatten. Die Psychologie von Stiftern nimmt viel zu oft an, dass arme Menschen naiv oder einfach wären. Es wird unglaublich viel Geld für unnütze Projekte ausgegeben!

Dann haben Sie ihre Arbeit mit den NGOs erstmals beendet und sich der theoretischen Forschung zugewandt.

Der Wendepunkt in meinem Leben war, als ich entschied, die NGO-Welt zu verlassen. Ich ging nach Miami und blieb mit einer Anstellung als Sekretärin. Ich dachte, ich würde das Thema Migration und Sexarbeit hinter mir lassen, doch ich bekam es nicht aus dem Kopf. Ich wollte wissen, warum ein so großer Unterschied existierte zwischen dem, was MigrantInnen selber über sich erzählten und was Europäer über sie sagten. Und ich konnte nicht verstehen, warum dermaßen große Vorurteile gegenüber den Frauen bestanden, die Sex verkauften.

Also gingen Sie zurück in die Universität…

Ja! Es war 26 Jahre nachdem ich das letzte mal da war, mit einer eher unschuldigen Hoffnung, dass es dort ein paar wichtige Bücher zu diesen Themen zu lesen geben würde. Was einen Schock ich hatte, als ich das erste mal in der Uni-Bibliothek war – es schienen endlos auf den Regalen zu stehen – und dazu kamen die Magazine. Im Jahr 2002 machte ich meinen Abschluss. Dann machte ich sechs Monate Feldforschung in Madrid. Meine Frage war, warum Menschen, die MigrantInnen helfen wollen, sie immer als derartig passive Seelen behandelten, jederzeit bereit dafür, Opfer zu werden. Meine Perspektive zu Migration und Sexualität war ungewöhnlich genug, um als Sprecherin zu vielen Konferenzen und NGO-Veranstaltungen eingeladen zu werden und für akademische Magazine zu schreiben.

Der Unterschied zwischen Ihrer Arbeit und der vieler anderer ForscherInnen ist der Kontakt zu den ArbeiterInnen selber. Sie werden bei Ihnen wieder vorgeführt noch vulgär für eine theoretische Meinung missbraucht. Dazu gibt es ja auch mittlerweile viele Organe, in denen die Sex-ArbeiterInnen selbst zu Wort kommen. Können Sie uns einen Überblick geben?

Traditionelle Prostitutionsdebatten sind theoretisch. Sie konzentrieren sich auf die abstrakte Frage, ob der Verkauf von Sex als Beruf oder als Gewalt gegen Frauen verstanden werden kann. Außerdem existiert viel Recherche in medizinischen Journalen, die sich direkt auf Menschen, die Sex verkaufen, bezieht. Diese Studien sprechen mit denen, die erforscht werden sollen, und befragen sie über ihre Erfahrungen zwischen Reise und Arbeit, Lust und Gefahr – anders als die große Menge an feministischen Schriften, die über die Bedeutung von Prostitution abstrakt argumentieren. Außerdem haben Sexarbeiterinnen überall in der Welt Internet-Seiten gegründet, es existiert ein Magazin von ihnen namens „$pread“, Sex-ArbeiterInnen-Filmfestivals und Kunst-Shows, Kabelprogramme, Community-Radio und andere Non-Mainstream-Magazine, die Interviews und Artikel über sie veröffentlichen.

Mit dieser Menge an Wissen müssten doch eigentlich auch unterstützende Maßnahmen entwickelbar sein, die von den Bedürfnissen der Sex-ArbeiterInnen ausgehen…

Leider nicht. Das Problem ist, dass das alles die “HelferInnen”, Bürokraten, Politiker und Polizisten nicht interessiert. Auf einer Konferenz sagte ein Sprecher, dass „wir nicht mit Prostituierten sprechen müssen, um zu wissen, was Prostitution ist“. Die, die sich für die Abschaffung von kommerziellem Sex engagieren, sind sich absolut sicher über ihre eigenen Ideen und glauben niemandem, der in der Sex-Industrie arbeitet. Sie klagen Menschen wie mich an, dass sie einen Ausverkauf an das Patriarchat betreiben oder von Pornographen bezahlt werden. Professionelle Sex-ArbeiterInnen besitzen für sie nur falsches Bewusstsein. Ich nenne FeministInnen, die darauf insistieren, dass es nur eine einzige Bedeutung am Horizont aller Frauen-Erfahrungen gibt, Fundamentalistinnen: Sie denken, es gäbe eine Essenz, die alle biologischen Frauen gemein hätten und verbinden würde. Und sie definieren diese Essenz. Sie fühlen sich wohl darin, über die Erfahrungen von Frauen über alle kulturellen und linguistischen Grenzen hinweg zu sprechen. Fundamentalismen steigen zurzeit an, und dieser ist einer von ihnen.

Ihr Buch beschreibt aus einer historischen Perspektive auch eine neue Qualität, mit moralischen Urteilen Macht auszuüben, die sich seit dem Bürgertum des 18. Jahrhunderts entwickelt hat. Zwischen Staat und Patriarchat entstand eine Hilfs-Industrie, die aus der Prostituierten eine eindimensionale Opfer-Identität machte, die überwacht und der geholfen werden muss.

Seit dem 18. Jahrhundert und der Verminderung monarchischer Macht gab es ein Nachdenken in der neu installierten Mittelklasse, wie Gesellschaften für ein korrektes und moralisches Leben organisiert werden sollen. In diesem Prozess wurden alle Menschen, die anders lebten, als Schurken, Verlierer und Perverse definiert und auch die identitäre Kategorie „Prostituierte“ produziert. Vor diesem Prozess wurden Menschen, die Sex verkauften, nicht aufgrund ihrer sexuellen Identitäten von Gemeinschaften isoliert. Natürlich gibt es Unterschiede in verschiedenen europäischen Staaten, aber diese Generalisierung ist historisch belegt.

Seitdem Frauen, die Sex verkaufen, immer konsequenter als Prostituierte gelabelt wurden, erzählte man sich verschiedene Geschichten über sie: Sie waren Verführerinnen, oder Libertine, oder Kriminelle, oder Opfer – oder ordinäre arme Frauen. Doch im fortlaufenden 19ten Jahrhundert triumphierte die Opfer-Identität. Diese Identität wurde zur Rechtfertigung für einen neuen Sektor von Sozial-ArbeiterInnen, deren Profession es war, sie zu retten und ihnen bei ihrer Rehabilitierung zu helfen. Die widersprüchlichen Geschichten, was eine Prostituierte ist, werden immer noch erzählt. Und sie sind wirklich alle wahr, weil es Millionen von Menschen gibt, die Sex verkaufen. Demnach macht es Sinn, darüber nachzudenken, dass sie nicht alle die gleichen Eigenschaften, Lebensgeschichten oder Motivationen haben, um das zu tun was sie tun.

Die Prostituierte hatte ja auch nicht nur gut einkommen, um als Frau unabhängig zu leben, sondern war auch ein Gegenpart zur bürgerlichen Ehe-Frau, die sich ihre Anerkennung durch Familien- und Hausarbeit erarbeitete.

Bürgerliche Denker betrachteten ihre eigenen Familien als das echte Zentrum des sozialen Lebens. Das familiaristische Heim galt als ein Ort der Keuschheit und Heilkraft, vielmehr, als Königshofe oder elitäre Wohnsitze. Die Frau wurde als Bewacherin des Herds definiert, die die Familie durch ihre Anwesenheit im Haus zusammen halten und physische und emotionale Arbeit wie Sauberkeit, Ernährung und die Sorge um die Bedürfnisse der Anderen organisieren sollte. Diese Idee ist heute bekannt als häusliche Ideologie. In der gleichen Zeit wollten oder mussten immer mehr gebildete Frauen für ihren Lebensunterhalt arbeiten, doch die einzigen Beschäftigungen, die als respektabel galten, waren die der Gesellschaftsdame und die der Erzieherin, am Busen einer „echten“ Familie. Durch die Erschaffung der Armen als Opfer, denen geholfen werden muss, stattete sich die Mittelklasse mit einer neuen Arbeitssphäre aus, dem Sozialen. Das Soziale galt nicht nur als respektabler Ort für Frauen, sondern ihre spezifische Arbeitsdomäne. Frauen wurden zu „natürlichen“ Helferinnen und Erzieherinnen, befähigt zu wichtigen sozialen Aufgaben, die Männern angeblich nicht so gut lagen.

Seit den Achtziger Jahren gibt es sichtbaren, selbstorganisierten Aktivismus von Sex-ArbeiterInnen, die allgemein gesagt, „Sexarbeit als Arbeit“ anerkannt haben wollen, mit den gleichen Rechten wie andere ArbeiterInnen auch. Unterstützen sie diese Bewegung?

Ich glaube nicht an “Sexarbeit ist Arbeit” als universelle Aussage, dafür unterscheiden sich Auffassungen von Arbeit und Sex und Geld zu sehr zwischen verschiedenen Menschen. Ich unterstütze die, die empfinden, dass Sex zu verkaufen ihr Beruf oder ihre Profession ist, doch ich verstehe dass viele, die Sex verkaufen, nicht empfinden, dass dies ein normaler, echter oder angemessener Job ist und den Tag herbei sehnen, an dem sie diesen Arbeitsplatz verlassen. Aktivistische Bewegungen, die Rechte für Sex-ArbeiterInnen einfordern, existieren in vielen Ländern, und natürlich unterstütze ich sie, genauso, wie ich Bewegungen für die Rechte von HausarbeiterInnen oder anderen selbst definierten Gruppen unterstütze. Es gibt schon viele Analysen von AkademikerInnen und Sex-ArbeiterInnen zu der Frage, was Sex zu verkaufen mit Arbeit zu tun hat. Man kann es im Internet lesen, falls man keinen Zugang zu speziellen Zeitschriften hat. Manche Mainstream-Gewerkschaften haben Sex-ArbeiterInnen als Mitglieder akzeptiert, und nicht alle von ihnen leben in wohlhabenden Nationen.

Sehen Sie in den nächsten Jahren produktive Möglichkeiten, was sich an den Umständen und der Wahrnehmung von migrantischen Sex-ArbeiterInnen ändern kann?

Nach einer langen Epoche, in der eine bestimmte heterosexuelle Form von Sex, Liebe und Heirat dominant war, werden nun auch andere Arten sexueller, erotischer und romantischen Ausdrucks sichtbarer und alltäglicher. Sie haben sicherlich immer existiert. Ich denke nicht, dass wir uns auf einem linearen Weg des Fortschritts in die sexuelle Befreiung befinden.

Ich sehe jedenfalls nicht die Kombination von Geld und Sex als Teil einer essenziellen oder gar transzendenten Bedeutung. Im Gegenteil: Lapdancer, Straßen-Prostituierte, Stripper, Dominas, Porn-Performer, Menschen die in Clubs oder Massage-Räumen arbeiten – sie alle könnten sich als Sexarbeiter identifizieren, doch ihre Berufe und Alltage sind sehr verschieden. Die Eindimensionalität des Begriffes Sexarbeiter beruht auf einer Fetischisierung des Geldes. Menschen verteufeln die Kommodifizierung des Sexes in einer Welt, wo alles kommodifiziert ist. Bezahlte Kinderbetreuung ist akzeptiert, genau so wie Hausfrauen, die sich die Probleme ihrer Auftraggeber anhören und ihre Hunde ausführen. Menschen kaufen Spermien um Fötusse zu produzieren und machen sich neue Brüste oder neue Nasen. Viele verstehen Sexarbeit als etwas komplett Einzigartiges.

Komischerweise hat das Aufklärungsprojekt des Westens, mit spezifischen Diskursen der Psychoanalyse und Medizin, alles dafür getan, dass es eindeutig abweichende Identitäten gibt…

Manche denken, Sexualität konstituiere die Identität, die westliche Idee des Selbst, welcher bei falschem Gebrauch geschadet werden kann. Diese Basis macht auch die Prostitutionsdebatten so absurd: ein quasi-religiöser Glaube, der nie bewiesen werden kann und der absurd für die ist, die ihn nicht teilen. Es gibt viele Berufe, die unangenehm und gefährlich sind: Soldaten im Irak, Arbeiter in Atomkraftwerken, Minen oder der Treibhaus-Agrikultur in Andalusien, um mal wahllos ein paar Berufe herauszugreifen. Ich gehe nicht davon aus, dass Sex heiliger ist als alle diese Formen der Arbeit und deswegen zwangsläufig mächtiger darin, Menschen zu schädigen. Es gibt so viele Ungerechtigkeiten auf den globalen Arbeitsmärkten, die hingegen kaum im öffentlichen Diskurs genannt werden.

Doch die Idee, dass Sexarbeit einzigartig gefährlich ist, ist anderen Ideologien über Frauen erschreckend ähnlich, wie der Idee, dass Vergewaltigung oder unverheiratete Schwangerschaft für ein grausames Schicksal bedeuten. Dahinter liegt die ewig gleiche Idee, dass Frauen passive Opfer sind. Das Konzept der Gewalt gegen Frauen hat ihnen wichtige Rechte beschert, doch die Idee, Frauen als vor allem sexuell verletzliche Geschöpfe zu sehen, ist extrem rückschrittlich. Nicht alle empfinden das gleiche über Sex: Diese einfach Idee ist die Basis von dem, was ich sagen will.

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