Diese Frauen sind nicht naiv: Interview with Laura Agustín by Neue Zürcher Zeitung

«Diese Frauen sind nicht naiv.» Eine Soziologin sieht nicht alle Prostituierten als Opfer

NZZ am Sonntag – Neue Zürcher Zeitung, 26 Juli 2009

Sind Prostituierte aus der Dritten Welt alle Opfer von Frauenhandel und Ausbeutung? Nein, sagt die renommierte Soziologin Laura María Agustín. Die Entrüstung unter Feministinnen ist gross.

Interview: David Signer

Fast täglich lesen wir irgendwo über afrikanische, asiatische oder osteuropäische Frauen, die gegen ihren Willen in den Westen verschleppt und hier zur Prostitution gezwungen werden. Die Sklaverei existiere fort in Form des Frauenhandels, heisst es in diesem Zusammenhang gern.

Hunderttausende von ahnungslosen Frauen würden unter falschen Versprechen von zu Hause weggelockt, mit Gewalt ans andere Ende der Welt verfrachtet, unter Drogen gesetzt, von dubiosen Organisationen ausgebeutet. Sicher gibt es solche Fälle. Aber das generelle Bild ist komplexer.

Die Soziologin Laura María Agustín beschäftigt sich seit vielen Jahren mit diesem Thema, zuerst als Mitarbeiterin von NGO in verschiedenen Ländern Lateinamerikas, später als Forscherin. In ihrem Buch «Sex at the Margins» stellt sie sich entschieden gegen den «Frauenhandel-Mythos», der die Prostituierten zu wehrlosen Opfern degradiere. Bei einem Gespräch erklärt sie, warum Prostitution unter gewissen Umständen durchaus eine valable Option sein kann.

NZZ am Sonntag: Frau Agustín, Sie schreiben in Ihrem Buch, der vorherrschende Diskurs über Prostitution sei geprägt von einem «fundamentalistischen Feminismus». Was meinen Sie damit?
Laura María Agustín: Damit meine ich Feministinnen, die davon ausgehen, dass Frauen über alle kulturellen und sozialen Grenzen hinweg eine gemeinsame Essenz und ein gemeinsames Schicksal teilen: nämlich Opfer der männlichen, sexuellen Gewalt zu sein. Frauen sind für sie generell Opfer und Prostituierte ganz besonders. Prostitution heisst für diese Art Feministinnen Vergewaltigung, und also müssen die Prostituierten gerettet werden. Diese Axiome zu leugnen, ist für sie gleichbedeutend mit einer Leugnung des Holocaust, denn auch hier geht es angeblich um eine Art Genozid: an den Frauen. Das Leiden und der irreparable Schaden, der durch Sex ohne Liebe verursacht wird, ist für sie mit keinem andern Leiden zu vergleichen. Das sind Vorstellungen von weissen, christlichen Mittelstands-Frauen, die dann auf die ganze Welt projiziert werden. Ursprünglich ging es im Feminismus doch darum, Verantwortung zu übernehmen, oder? Aber heute sieht man nur noch überall Opfer.
Sie relativieren damit aber den Sonderfall der Sexarbeit.
Ist Sex mit einem Mann, den man nicht liebt, wirklich so viel schlimmer als die Arbeit in einer Mine oder als Soldatin in einem Krieg? Den meisten Leuten auf der Welt, Männern oder Frauen, stehen – im Gegensatz zu Europa – nicht viele berufliche Möglichkeiten offen. Eine junge Frau in der Dominikanischen Republik hat oft nur drei Alternativen: Haushaltmädchen, Strassenverkäuferin oder Prostituierte. Manche von ihnen sagen: Lieber sterbe ich, als meinen Körper zu verkaufen, andere sagen, lieber sterbe ich, als mich als Haushaltmädchen ausbeuten zu lassen. Es gibt also individuelle Präferenzen, und nicht alle haben dasselbe Verhältnis zu Sex. Man ist nie total von äusseren Umständen determiniert, aber diese Frauen werden genau so dargestellt, als ob sie keine Ambitionen und keine Entscheidungsfähigkeit hätten. Die Feministinnen sagen: «Schrecklich, ich kann mir gar nicht vorstellen, wie es ist, mit einem Mann für Geld Sex zu haben!» Andere können sich das sehr wohl vorstellen. Wenn man die Prostituierten zurückschafft, dann ist die Frau halt gezwungen, als Haushaltmädchen oder Strassenverkäuferin zu arbeiten, that’s all.
Wir haben halt das Gefühl, das Wertvollste, die Liebe und die Sexualität, würden entwertet, wenn sie zur Ware werden.
Aber alles ist doch heute käuflich! Ein Psychotherapeut verkauft seine Sensibilität, ein Kindermädchen seine Zärtlichkeit. Deswegen nehmen wir nicht an, dass sie zu seelischen Krüppeln werden.
Ist die «Frauenhandel»-Theorie nicht schon deshalb fragwürdig, weil es Tausende von Prostituierten in der Dritten Welt gibt, die sofort nach Europa gehen würden, wenn sie könnten, um dort ihrer Arbeit nachzugehen?
Wir haben in Ecuador ein Projekt durchgeführt mit Prostituierten. Theater, Rollenspiel. Diese Frauen waren sehr geübt darin, Kunden einzuschätzen. Aber sobald beispielsweise ein Italiener auftauchte, der sie nach Rom mitnehmen wollte und ihnen das Paradies auf Erden versprach, warfen sie alle Vorsicht über Bord. Das hat nichts mit «trafficking» zu tun, hingegen sehr viel mit Leichtsinn – den man einem Mann zum Vorwurf machen würde, nicht aber einer Frau.
Im Zusammenhang mit Organisationen, die den Prostituierten helfen wollen, schreiben Sie von einer «Rettungs-Industrie» – was meinen Sie genau damit?
Viele Aktivistinnen wollen die Prostituierten in einer maternalistischen Art «befreien», so dass sie zurück in ihre Heimat gehen könnten. Aber viele wollen gar nicht «gerettet» werden! Das Problem ist, dass all die Leute in den Organisationen, die sich mit Prostitution beschäftigen, den Prostituierten gar nicht zuhören. Es gibt nur wenige Feministinnen, die sich vorstellen können, dass sich eine Frau aus armen Verhältnissen angesichts der Möglichkeiten, die ihr offenstehen, bewusst für die Option Prostitution entscheidet, dass sie wählt und nicht nur ein passives Objekt ist, das gegen seinen Willen um die halbe Welt geschoben wird. Ich erinnere mich, wie an einer Konferenz in Quito eine Prostituierte aufstand und sagte: «Ich bin es leid, von diesen Aktivistinnen wie ein Baby behandelt zu werden.» Aber als ich einmal einer Repräsentantin einer NGO empfahl, wirklich mit Sexarbeiterinnen zu reden, entgegnete sie: «Wir müssen nicht mit Prostituierten reden, um zu wissen, was Prostitution ist.»
Nehmen wir ein Buch wie den Bestseller «Ware Frau» der beiden Journalistinnen Mary Kreutzer und Corinna Milborn. Darin schildern afrikanische Prostituierte in Österreich, wie sie durch Voodoo gefügig gemacht wurden und fürchten, einem Fluch zum Opfer zu fallen, falls sie ausstiegen. Sind das Einzelfälle, sind die Aussagen gefälscht?
Wahrscheinlich nicht. Aber es geht um Gewichtungen. Sicher spielen religiöse Aspekte eine Rolle. Biografien sind ja nie eindeutig. Wir können unsere Lebensgeschichte verschieden erzählen. Kürzlich hörte ich von einer Sprachschule in Benin, wo Frauen Englisch lernen, um als Prostituierte in Nigeria arbeiten zu können. Sie hoffen, von dort dann den Sprung nach England zu schaffen. Es ist eine Art Karriereplanung. Solche Aspekte kommen in diesen Bestsellern nicht vor. Im Laufe meiner Arbeit habe ich mit Tausenden von Prostituierten gesprochen. Die Mehrheit will keinen Kontakt mit Hilfsorganisationen und also auch nicht mit Journalisten oder Journalistinnen, die immer über die schwierigen Schicksale schreiben.
Präsentieren die Betroffenen ihr Schicksal bewusst in einer bestimmten Art?
Diese Frauen sind nicht naiv. Sie wissen, auf welche Art Geschichten die Journalisten aus sind. Dasselbe gilt für Gespräche mit Polizisten oder Sozialarbeiterinnen. Man bekommt eher Hilfe, wenn man sich als Opfer präsentiert. Das heisst nicht, dass sie lügen. Es geht um verschiedene Arten zu interpretieren, was sie erlebt haben. Meist wurden sie nicht verschleppt. Das Schlagwort «Menschenschmuggel» umschreibt die komplexe Situation nicht treffend. Eher waren sie gutgläubig. Sie waren verliebt in einen Mann, unterschrieben Verträge, die sie gar nicht verstanden. Aber das heisst auch, sie waren bereit, hohe Risiken einzugehen, um ihr Land verlassen zu können, um – wie sie glaubten – ihr Schicksal in die eigenen Hände zu nehmen. Feministinnen gehen davon aus, dass es besser wäre für diese Frauen, zu Hause zu bleiben. Migration und Prostitution sind für sie per definitionem immer erzwungen, und jede Thailänderin, die einen älteren Deutschen heiratet, ist per definitionem ausgebeutet. Damit kommt man dann natürlich zu astronomisch hohen Zahlen von «Opfern».
Sie legen in Ihrem Buch viel Wert auf die Tatsache, dass sich nicht nur Frauen prostituieren. Warum?
Es wird oft so getan, als ob es nur wenige Männer gäbe, die sich prostituieren. Das ist schlicht nicht wahr, vor allem, wenn wir neben den Gigolos und Strichern auch Transsexuelle und all diese Formen von Prostitution jenseits der eindeutigen geschlechtlichen Zuschreibungen hinnehmen, das afrikanische «Sugar Mummy»-Phänomen, also reiche Frauen, die sich jüngere Liebhaber suchen, sowie die Angebote für Sextouristinnen, zum Beispiel in Gambia. Aber das bringt eben diese eindeutigen Rollenzuschreibungen der «armen Frauen» und der «bösen Männer» durcheinander. Dazu gehört auch die Tatsache, dass viele Bordellbetreiber Frauen sind. Doch selbst wenn diese Fakten anerkannt werden, dann wird immer noch behauptet, Männer würden per se durch bezahlten Sex nicht so traumatisiert, wie man das automatisch für die Frauen annimmt.
Legen wir verschiedene Massstäbe an, je nach dem, ob es sich um Frauen oder Männer, aber auch je nach dem, ob es sich um Leute aus der «Dritten Welt» oder aus dem Westen handelt?
Unser Sprachgebrauch ist entlarvend. Bei Leuten aus der «Dritten Welt» sprechen wir von Immigranten oder Flüchtlingen, bei solchen aus dem Westen von «Expats», Reisenden, Globetrottern, Kosmopoliten. Das heisst, die «andern» reisen nur aus purer Not, den Umständen gehorchend, während wir selbstbestimmt und aus purer Abenteuerlust unsere Heimat verlassen. Beides ist eine Simplifikation. Natürlich gibt es das Verlangen, Neues zu erleben, nicht nur im Westen. Verlässt ein Senegalese seine Heimat auf einem wackligen Boot, spricht man von Verzweiflung. Vor zweihundert Jahren hätte man – bei uns – von «Pioniergeist» geredet: «Go west, young man.»
Wann begann man, so über Prostitution zu reden, wie man das heute tut?
Bis ungefähr zur Zeit der Aufklärung sah man in den Prostituierten etwas Gefährliches, aber nichts Bemitleidenswertes. Erst im 19. Jahrhundert entstand unter Frauen des Bürgertums die Idee des Sozialen, die Idee, man müsse den Leuten und vor allem den Frauen aus der Unterschicht helfen, bessere Menschen zu werden, also den bürgerlichen Normen Genüge zu tun: Kernfamilie, Häuslichkeit, Monogamie. Dieses philanthropische Projekt ähnelte in seiner Mischung aus Mitleid und Bevormundung den kolonialen Anstrengungen. Es ging und geht auch um die Angst vor dem Andern und um eine Stabilisierung des eigenen Wertesystems. Also musste auch die Vermischung von Geld und Sex verdammt werden, obwohl die im Bürgertum auch existiert. In vielerlei Hinsicht wird diese missionarische Arbeit heute in dem weitergeführt, was man Entwicklungshilfe nennt.

Laura María Agustín: Sex at the Margins. Migration, Labour Markets and the Rescue Industry. Zed Books, London und New York. 248 Seiten.

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