Die Weltwoche Review

Die Weltwoche

Zürich – 26.06.2008
Ausgabe-Nr. 26; Seite 28

Prostitution

Befreiung durch die Rettungsindustrie

Von David Signer

NGOs möchten ausländische Frauen ausder Prostitution befreien. Notfalls auch gegen deren Willen.

Die Sklaverei sei nicht abgeschafft, sondern lebe fort in Form von Frauenhandel, heisst es. Hunderttausende ahnungslose Frauen würden unter falschen Versprechungen nach Europa gelockt und hier zur Prostitution gezwungen, mit Drohungen, Erpressung, Gewalt und Drogen, wird fast täglich in einem Artikel oder einer Sendung behauptet. Und hinter der systematischen Ausbeutung stünden mächtige Organisationen von ruchlosen Menschenhändlern.

Das ist der dramatische Weckruf, den wir seit Jahren hören und der uns bis zur Selbstverständlichkeit vertraut geworden ist. Um so verwirrender, dass nun eine langjährige Forscherin auf diesem Gebiet, Laura María Agustín, in ihrem neuen Buch schlicht und einfach «Nonsens!» ruft.

Eigentlich ist es einfach. In jeder afrikanischen, südamerikanischen oder asiatischen Grossstadt gibt es Tausende von Prostituierten, die mit Handkuss nach Europa kämen. Warum also unerfahrene Mädchen vom Land in den Westen schmuggeln und sie hier mit viel Aufwand und Risiko einsperren und überwachen, wenn es Professionelle gibt, die den Job freiwillig und besser machen? Die hohen Zahlen, die kursieren, sind auf die in diesem Bereich tätigen NGOs zurückzuführen, die oft immigrierte Prostituierte per se als Zwangsprostituierte und Opfer von Menschenhandel definieren. Viele Aktivistinnen können sich nicht vorstellen, dass eine Ausländerin es vorzieht, auf den Strich zu gehen, anstatt für einen Hungerlohn putzen zu gehen, und sprechen ihnen so jede Selbstbestimmung und bewusste Wahl ab. Der ganze Diskurs um trafficking, Menschenhandel, ist für Agustín Ausdruck einer «maternalistischen», infantilisierenden Geringschätzung der Immigrantinnen: Die Vertreterinnen der «Rettungsindustrie» möchten die ausländischen Prostituierten befreien – notfalls auch gegen ihren Willen. Welche dieser Einwanderinnen möchte schon ins Heimatland zurückgeschafft werden? Der Menschenhandelsdiskurs sieht diese Frauen nur als wehrlose Opfer, als Objekte, und nicht als Subjekte, die Pro und Kontra abwägen und zum Schluss kommen, Prostitution in Europa könnte unter den gegebenen Umständen eine gewinnträchtige Strategie sein.

Herzzerreissende Geschichten

Agustín beharrt darauf, dass auch arme Migrantinnen ihre Zukunft planen, innerhalb ihrer Möglichkeiten rationale Entscheidungen fällen, dass nicht nur Not sie nach Europa treibt, sondern auch benteuerlust, und dass auch Prostituierte individuelle Auffassungen über ihren Beruf, ihre Sexualität, Männer und ihre Zukunft haben – das klingt banal, ist aber erfrischend inmitten all der stereotypen Zugänge zu diesem Thema.

Ein Beispiel für letztere ist das Buch «Ware Frau – Auf den Spuren moderner Sklaverei von Afrika nach Europa» der österreichischen Journalistinnen Mary Kreutzer und Corinna Milborn. Sie behaupten, die meisten afrikanischen Prostituierten in Europa kämen aus der Stadt Benin City in Nigeria, wo sie mit Hilfe von Voodoo-Flüchen gefügig gemacht würden. Nun, ich kenne die Verhältnisse in Wien nicht, aber in Zürich kommen die meisten afrikanischen Prostituierten aus Kamerun, und Voodoo kennen sie höchstens aus Hollywood-Filmen. Woher stammen denn all die herzzerreissenden Schilderungen, die in diesem Buch zitiert werden? Ganz einfach: Die meisten immigrierten sex workers leben illegal oder halblegal hier. Für die Fremdenpolizei haben sie sich eine halbwegs plausible Geschichte sammengezimmert, so wie das auch Asylsuchende tun. Im Falle der Prostitution hat die «Opfer»-Version den Vorteil, auch psychisch entlastend zu wirken: Und warum sollten die Frauen den Vertreterinnen von NGOs oder Journalistinnen eine andere, weniger spektakuläre Geschichte
erzählen, wenn diese doch so gut ankommt? Immerhin sind Prostituierte auch professionelle Schauspielerinnen.

Die Dissertation «Frauenhandel in der Schweiz – Business as usual?» der Soziologin Rahel Zschokke untersucht die Situation in der Schweiz. Sie kommt zum Schluss, Frauenhandel (Verschleppung und systematische Gewaltanwendung) spiele auf dem westeuropäischen Prostitutionsmarkt kaum eine Rolle. Es ist der Wunsch, den schlechten wirtschaftlichen und lebensweltlichen Perspektiven zu entkommen, der die Frauen die Option «Sexmigration» ergreifen lässt. In den Worten Agustíns: «Sie wollen den kleinstädtischen Vorurteilen, Sackgassen-Jobs, gefährlichen Strassen und erdrückenden Familienverhältnissen entfliehen. Und: Einige der armen Migrantinnen lieben die Idee, dass man sie andernorts schön, exotisch, begehrenswert oder erregend findet.»

Laura María Agustín: Sex at the Margins. Migration, Labour Markets and the Rescue Industry. Zed Books 224 S., Fr. 40.50

Mary Kreutzer, Corinna Milborn: Ware Frau -Auf den Spuren moderner Sklaverei von Afrikanach Europa. Ecowin. 234 S., Fr. 35.90

Rahel Zschokke: Frauenhandel in der Schweiz – Business as usual? Orlux. 339 S., Fr. 60.-